// Fachartikel

TextilWirtschaft: Fokus Greenwashing: Franziska von Becker von h+p im Interview

Gefahr Greenwashing: Die Modebranche wirbt inflationär mit dem Begriff "Nachhaltigkeit", für den es keine Definition und Richtlinien gibt. Die Unsicherheit wächst, die Abmahnungen nehmen zu. Wie entgehen Marken der Greenwashing-Falle? Franziska von Becker, Principal Consultant der Unternehmensberatung Hachmeister+Partner, über den Higg-Index, Vorzeige-Unternehmen und die Fragen, die Händler ihren Lieferanten stellen sollten.

Veröffentlicht am 21.10.2022

null
Magazin > TextilWirtschaft: Fokus Greenwashing: Franziska von Becker von h+p im Interview

Jeder hat Angst, in einen Shitstorm zu geraten

Sascha Negele von Hachmeister + Partner über den Oktober-Abschluss und inwiefern Weihnachten wichtiger für den stationären Modehandel ist als die in wenigen Tagen startende Fußball-WM.

TextilWirtschaft:Wo sehen Sie die größte Herausforderung beim Thema Greenwashing?
Franziska von Becker: Die größte Herausforderung ist, dass es in der gesamten Branche noch kein fundiertes, unabhängiges Instrumentarium gibt, auf das sich Industrie und Handel stützen können. Zum Thema Nachhaltigkeit wird unglaublich viel kommuniziert, aber nur wenig wissenschaftlich und eindeutig definiert und wenig ist wirklich messbar.

Was ist mit dem Higg-Index, mit dem die Sustainable Apparal Coalition Nachhaltigkeit messbar machen wollte?
Der Higg-Index hat zunächst ein sehr gutes Ziel: nämlich Nachhaltigkeit messbar zu machen. Leider fehlt es an Transparenz: Das gilt sowohl für die Bewertung als auch für die Frage, wer da eigentlich dahintersteht. Es sieht so aus, als ob auch Interessengruppen wie die großen Fast Fashion-Konzerne dahinterstehen. Es gab Kritik, meiner Meinung auch berechtigt, dass hier der Einsatz von recyceltem Polyester zu positiv gesehen wird. Ich sehe im Moment kein wissenschaftlich fundiertes, objektives Instrumentarium, mit dem Nachhaltigkeit wirklich messbar ist. Deshalb kann sich jeder Hersteller positionieren und Greenwashing ist damit Tür und Tor geöffnet.

Sie beraten vor allem mittelständische Händler und Hersteller, die genau aus diesem Grund zögerlich sind beim Thema Nachhaltigkeit, aus Angst sich angreifbar zu machen.
Ja, jeder hat Angst, in einen Shitstorm zu geraten. Deshalb traut sich auch keiner, einen Schritt nach vorn zu gehen. Wichtig wären jetzt klare Richtlinien und Leitfäden. Wir arbeiten gerade mit verschiedenen Stakeholdern an dem Thema Mapping von Nachhaltigkeitsinformationen zwischen Herstellern und Händlern. Mehr Klarheit in den Anforderungen, was wir überhaupt als nachhaltig beurteilen, hilft allen.

In Brüssel ist viel in der Pipeline. Welche der geplanten Gesetze sind Ihrer Meinung nach dabei am hilfreichsten?
Sehr wichtig ist meiner Meinung nach die neue Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD)-Richtlinie, die jetzt auf alle zukommt und die als EU-weit einheitlicher Standard für eine Nachhaltigkeitsberichterstattung alle Unternehmen gleichermaßen zu einer Bilanz zwingt und eine Vergleichbarkeit ermöglicht.

Aber gerade die Großen legen ja schon alle detaillierte Nachhaltigkeits-Berichte mit vielen schönen Zahlen und Versprechen vor. Demnach müsste die Branche auf dem Weg schon sehr weit sein.
Papier ist geduldig, das liest sich natürlich alles sehr gut. Aber es erschließt sich aus diesen seitenlangen Berichten nicht, auf welcher Stufe der Nachhaltigkeit die Unternehmen wirklich sind. Viele haben aber auf dem Papier in der Tat große Ziele, die meisten bis 2030 und das ist gar nicht mehr so lange hin, denn die Branche hat ja immer anderthalb Jahre Vorlauf.

Sie kommen aus der Industrie, waren zuletzt bei Armedangels, davor unter anderem bei More & More, Strenesse und Escada. Wer ist Ihrer Meinung nach schon wirklich weit?
Ein Vorzeige-Unternehmen ist für mich Patagonia. Die machen ohne großes Gedöns sehr viel im Hintergrund richtig.

Das Unternehmen arbeitet aber mit großen Mengen recycelten Polyesters, einem sehr umstrittenen Material.
Da wird viel verteufelt im Moment und es stimmt, wir haben das Problem, das Polyester am Ende fast immer im Müll landet, weil es nicht abbaubar ist. Außerdem gibt es eine Fischernetze-Flaschen-Recycling-Romantik, die schnell verständlich, aber umstritten ist. Die Meinungen gehen hier aber weit auseinander, weil valide Daten fehlen.

Was ist mit dem Mikroplastik-Problem?
Auch hier sehe ich viel Propaganda und viele unterschiedliche Studien und Meinungen. Außerdem gibt es zu wenige Alternativen, die wirklich nachhaltig sind. Da wird mit veganem Leder geworben – dabei ist auch das nichts anderes als Plastik.

Welche Faser ist Ihrer Meinung nach wirklich nachhaltig?
Grundsätzlich sollte es zuerst nach echter Langlebigkeit gehen. Ich bin ein großer Fan von Wolle, die die besten Eigenschaften hat und als temperaturausgleichendes Material auch für Active Sport mehr genutzt werden könnte.

Da gibt es dann wieder das Tierwohl-Problem, oder?
Natürlich muss hier streng auf Zertifikate und damit auf artgerechte Haltung geachtet werden. Generell ist das Thema Materialien anspruchsvoll. Es geht am Ende immer um den Verbrauch von Ressourcen. Baumwolle braucht zum Beispiel viel Land, das jetzt eher für Nahrungsmittel-Anbau genutzt werden sollte.

Was ist mit innovativen Fasern wie Hanf und Bambus?
Ja, die gelten als nachhaltige Newcomer, aber auch hier gibt es zu jeder Studie eine Gegenstudie. Trotzdem werden wir in Zukunft Wege finden, ressourcenschonende Fasern zu nutzen und komplett neuartige Fasern zu entwickeln.

Wie sollen sich dann Produktentwickler und Einkäufer entscheiden, wenn noch nicht einmal die Experten und Wissenschaftler so weit sind?
Das ist generell das große Problem beim Thema Nachhaltigkeit. Es gibt einfach noch keine gemeinsame Sprache dafür, was wirklich nachhaltig ist. Deshalb entwickeln immer mehr Händler ihre eigenen Standards.

Raten Sie Ihren mittelständischen Klienten, lieber auf eigene Labels zu setzen?
Auch das ist schwierig, denn der Endverbraucher wird davon erschlagen. Ich war neulich bei einem großen Händler auf der Fläche – da gab es kaum ein Teil ohne irgendein Zusatz-Etikett. Aber was sollen die Kunden damit anfangen? Wir müssen anders arbeiten.

Nämlich wie?
Das ist die große Frage, die wir auch kürzlich bei einem großen Roundtable diskutiert haben. Anfangen sollten die Händler bei ihren Lieferanten – sie müssen die Industrie nach konkreten Daten und Fakten fragen.

Welche Fragen sollten die Händler den Herstellern stellen?
Natürlich sollten sie zuerst nach den Basics fragen: Mit welchen nachhaltigen Materialien arbeitet Ihr? Wie zertifiziert Ihr Eure Baumwolle? Wer prüft die Einhaltung sozialer Kriterien? Vor allem aber auch: Wie seid Ihr beim Thema Nachhaltigkeit intern aufgestellt? Welche authentischen, an Unternehmenswerte gebundenen Ziele habt Ihr Euch gestellt?

Und was ist, wenn sich ein Lieferant noch gar nicht mit dem Thema beschäftigt? Auslisten?
Jeder sollte sich spätestens jetzt auf den Weg machen. Entweder bei den Materialfragen oder den sozialen Aspekten. Am besten in beiden Bereichen, um ein holistisches Bild zu bieten. Wir hören zwar von unseren Händlern, dass gerade von den älteren Konsumenten noch nicht so viele Fragen kommen, aber ich denke, es ist auch die Pflicht der Anbieter, ihren Kunden zu helfen, die richtige Entscheidung zu fällen.

Die Unternehmen stehen zurzeit unter enormen Druck – die Kosten steigen rasant. Was sagen Sie den Anbietern, die sich Nachhaltigkeit jetzt einfach nicht leisten können?
Wir wissen natürlich, dass das gerade für die Industrie ein riesiger Spagat ist im Moment. Die Kosten auf dem Beschaffungsmarkt explodieren, dazu kommt die Preisinflation. Und Nachhaltigkeitsmaßnahmen kosten natürlich etwas, wenn es auch nur interner Aufwand ist. Aber es ist noch ein größerer Kostentreiber, nicht nachhaltig zu agieren. Denn, wer das nicht spätestens jetzt tut, verbaut sich die Zukunft.

Wo senkt Nachhaltigkeit konkret die Kosten?
Ganz klar beim Thema Überproduktion. Schätzungen gehen davon aus, dass rund 25-30% Ware zu viel auf dem Markt ist, denn so funktioniert unser bisheriges Geschäftsmodell. Mit KI lässt sich inzwischen auch das NOS-Angebot entsprechend steuern. Aber auch Digitale Produktentwicklung und Musterung muss ganz oben auf die Agenda.

Und diese Prozesse im Hintergrund bergen auch keinerlei Greenwashing-Gefahr.
Genau, diese radikale Umstellung der Produktion steht fast nie auf der Nachhaltigkeits-Agenda, dabei gehört sie nach ganz oben.

Diese Umstellung des auf Wachstum und modischen Wandel ausgerichteten Geschäftsmodells gehört aber auch zu den größten Herausforderungen.
Das ist natürlich anspruchsvoller als Klimaneutralität durch Kompensations-Projekte. Aber dieses System des schonungslosen Ressourcenverbrauchs und des Wachstums um jeden Preis muss sich ändern. Wir sind noch viel zu sehr in den alten Strukturen gefangen. Aber genau da fängt Nachhaltigkeit wirklich an.

Was ist mit dem Thema Kreislaufwirtschaft, das viele ganz oben sehen?
Beim Thema Circularity fangen wir ja alle erst an, zu verstehen, wie komplex das Thema ist. Denn es muss ein Bekleidungsteil über den gesamten Lebenszyklus begleitet werden. Aber es birgt auch große Chancen, denn neue Geschäftsmodelle entstehen. Wir werden in Zukunft an einem Kleidungsstück mehrfach Services verkaufen. Es gibt gerade so viele Start-ups in Richtung Recycling – denn das ist ein großes Zukunftstthema. Wir befassen uns auch gerade damit, wie wir hier mit unseren Kunden Lösungen entwickeln, die skalierbar sind. Derzeit sehe ich Kreislaufwirtschaft aber auch als Marketingthema, das sich gut verkauft – aber von vielen Unternehmen erst in kleinen Schritten begonnen wird.

Womit wir wieder beim Thema Greenwashing wären, weil es derzeit noch keine echte Kreislauffähigkeit gibt – denn es gibt ja noch nicht mal die Infrastruktur für Rücknahmesysteme.
Deshalb muss man mit diesen Begriffen – circular und kreislauffähig – unbedingt besonders vorsichtig sein. Heute kann man da nur sagen "Wir bemühen uns". Mehr geht noch nicht. Wichtig ist es, hier ganz offen, transparent und ehrlich zu kommunizieren. Keiner kann sich heute voll umfänglich als 100% nachhaltig bezeichnen. Da werden noch viele Prozesse und Shitstorms auf die Branche zukommen. Irgendwas findet sich einfach immer und überall. Aber diese Angst darf nicht lähmen. Wichtig ist es, sich auf den Weg zu machen, anzufangen. Und dies auch ehrlich zu sagen. Ich persönlich freue mich über jedes Unternehmen, das sich im Thema Nachhaltigkeit weiterentwickelt, denn es ist für uns alle und die Zukunft unseres Planeten gut.

TextilWirtschaft, Kirsten Reinhold: Fokus Greenwashing: Franziska von Becker von h + p im Interview (Freitag, 21. Oktober 2022)

// Magazin

Weitere Artikel


© 2025 hachmeister + partner