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TextilWirtschaft: "Es fehlt an Klarheit, was eigentlich nachhaltig ist"

Die Modenachfrage ist 2022 immer noch hinter 2019 zurückgeblieben, das zeigen auch die Zahlen im Händlerkreis von hachmeister + partner. Ein Gespräch mit Franziska von Becker, Principal Consultant bei h + p, über die aktuellen Entwicklungen im Modemarkt und darüber, welche Rolle die hohe Inflation auch für die Nachhaltigkeit in der Branche spielen wird.

Veröffentlicht am 19.01.2023

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"Es fehlt an Klarheit, was eigentlich nachhaltig ist"

TextilWirtschaft: Das neue Jahr ist schon ein paar Tage alt. Dennoch die Frage: Wie hat Ihr Händlerkreis den Dezember und das Gesamtjahr 2022 abgeschlossen?
Franziska von Becker: Das Jahr 2022 war für viele Händler erneut herausfordernd. Im H+P-Kreis ging 2022 mit einem Umsatzrückgang von minus 6,5% (stationär und online) zum Vorkrisenniveau 2019 zu Ende. In der Tendenz gab es eine eher rückläufige Modenachfrage. Die HAKA verzeichnete dabei einen geringeren Umsatzrückgang als die DOB. Im Business- sowie Anlass-Segment gab es erhebliche Nachholeffekte und der Premium-Bereich performte erneut besser als der Mainstream. In den letzten Jahren sehen wir außerdem, dass sich die Gesamtkosten inklusive Wareneinsatz reduzieren, Budgets werden genau in Augenschein genommen und Ware enger am Bedarf geplant und eingesteuert. Darüber hinaus gibt es – Thema Energiekrise – eine deutliche Verschiebung der Kostenstruktur.

Was hat Sie bezüglich 2022 überrascht?
Es war klar, dass Premium weiter wachsen wird, aber dass dies in solch einem nachhaltigen Ausmaß erfolgt, auch im Luxus-Segment, war nicht zu erwarten. Überraschend ist auch, dass der Online-Umsatz nicht weiter durch die Decke ging. Die Konsumenten suchen wieder das stationäre Einkaufs-, Beratungs- und Aufenthaltserlebnis. Als dritten Punkt muss man die deutliche Verstärkung des Themas Nachhaltigkeit nennen.

Wie haben sich wichtige Kennzahlen entwickelt?
Sowohl Kunden- als auch Besucherentwicklung lagen 2022 ganzjährig zweistellig unter dem Vorkrisenniveau. Lediglich im Mai lockte die Frühjahr-/Sommerkollektion vermehrt Besucher in den Einzelhandel. Weihnachtsmärkte und positive Kauflaune beflügelten im Dezember Besucher und Kunden. Diejenigen, die in die Läden kamen, kauften häufiger, was zu einem Anstieg der Conversion-Rate um 0,5 Prozentpunkte zu 2019 führte. Im Bereich Online ist in unserem Händlerkreis zu beobachten, dass die Umsätze über Plattformen, wie zu erwarten, sinken und der Umsatzanteil der eigenen Online-Shops ansteigt. Insgesamt ist jedoch zu betonen, dass die Online-Umsätze deutlich hinter den Erwartungen zurückbleiben – hier gilt es zu optimieren.

Die Inflationsrate hat sich etwas abgeschwächt, dennoch wird das Preisniveau weiter zulegen. Was bedeutet das für die Modeanbieter und den Modekonsum?
Auch die "geringere" Inflation hat eine erhebliche Wirkung. Preissteigerungen sind im letzten Jahr noch nicht so deutlich zu spüren gewesen. 2023 werden die Preise auch bei Modeprodukten stärker steigen. Viele Händler haben die zum Teil zweistelligen Preissteigerungen noch nicht weitergegeben. Wir gehen nicht davon aus, dass der Kunde dies so akzeptiert und eher mal ein Teil weniger kauft. Diese Entwicklung wird weiteren Druck auf die untere Mitte ausüben.

Im Lebensmitteleinzelhandel zeigt sich schon, dass Bio-Anbieter zunehmend unter Druck geraten, weil die Kunden auf andere Anbieter ausweichen. Erwarten Sie ein solches Szenario auch im Modemarkt?
Im Bekleidungsmarkt fehlt es an Klarheit, was überhaupt "Bio" oder nachhaltig ist. Im Markt nachhaltig anerkannter Marken, also bei den Pionieren in der Branche, erleben wir ein positives Wachstum. Dieses Wachstum ist aber nicht allein durch die Bemühungen im Thema Nachhaltigkeit begründet. Einige dieser Marken haben es geschafft, Nachhaltigkeit in ihrer Markenbotschaft aufzunehmen. Generell wird es anspruchsvoll für alle Hersteller, die gestiegenen Herstellungskosten preislich abzubilden. Es werden natürlich auch nachhaltige Aspekte neu diskutiert, wie die Verwendung von nachhaltigeren Materialien oder die Investition in nachhaltige Maßnahmen.

Welche Rolle spielt das Lieferkettengesetz dabei?
Das Lieferkettengesetz zwingt Unternehmen zusätzlich, Verantwortung für ihre Supply Chain zu übernehmen und Transparenz zu schaffen. Das H+P-Team arbeitet mit Hochschulen und Unternehmer:innen im Rahmen verschiedener Innovations­projekte an der Nachhaltigkeits-Performance der Branche. Der eigens entwickelte H+P-Nachhaltigkeits-Index macht den Status quo von Herstellern bzw. Marken transparent. Mit unserem "Round Table" haben wir zudem eine Plattform zum regelmäßigen Austausch unterschiedlicher Marktakteure geschaffen. Darüber hinaus unterstützen wir Unternehmen mit den Beratungs­ansätzen "Roadmap" und "Sustainability 2.0", ausgehend von unserem Framework aus Best Practice und Erfahrung.

Wie sehen Ihre Erwartungen in Bezug auf die Entwicklung nachhaltiger Mode 2023 aus?
Fast zwei Drittel der Konsument:innen geben an, dass die Nachhaltigkeit eines Kleidungsstücks für sie ein entscheidender Kauffaktor ist. Folglich machen sich die allermeisten Unternehmen auf den Weg, sich in diesem Thema zu positionieren. Neben der zukünftigen Gesetzgebung geht es auch um die Zukunftsfähigkeit am Absatzmarkt. Wir unterstützen Unternehmen hierbei im Wissenstransfer, bei der strategischen Ausrichtung sowie beim Aufbau der internen Organisation. Das H+P-Team ist überzeugt, dass sich sowohl Handels- als auch Industrie­unternehmen klar zum Thema Nachhaltigkeit positionieren müssen, um zukunftsfähig zu bleiben. Konsument:innen erwarten diesbezüglich zunehmend eindeutige und glaubwürdige Aussagen, um nachhaltige Kaufentscheidungen treffen zu können.

Wie hat nachhaltige Mode 2022 performt?
Wie gesagt, zeigt sich eine sehr positive Entwicklung der Nachhaltigkeitspioniere. Diese ist aber auch auf die Markenstrahlkraft und Performance im Handel zurückzuführen. Nachhaltigkeit allein ist kein Leistungskriterium. Ein Produkt muss im Handel performen. Für die Konsumenten ist Nachhaltigkeit oft ein Hygienefaktor. Es wird von der Großzahl der Konsumenten erwartet, ist jedoch kein Alleinstellungsmerkmal für den Verkauf.

Wie groß ist der Marktanteil nachhaltiger Mode?
Momentan ist dies noch schwer zu beziffern, da es einerseits keinen Standard gibt, anderseits auch nicht auf Markenebene, sondern auf Artikelebene (ggf. sogar je Charge) differenziert werden muss.

In welchen Produktbereichen spielen nachhaltige Anbieter eine besonders große Rolle?
Im Bereich Outdoor gibt es schon immer Vorreitermarken. Sicher auch, weil die Zielgruppe hier naturaffin ist. Auch im Segment Denim haben sich schon früh nachhaltige Marken etabliert. Hier passen Zielgruppe und Produktimage ebenfalls gut zusammen.

Welche Rolle spielt das zunehmende Engagement herkömmlicher Modeanbieter in Bezug auf nachhaltige Kollektionen etc.?
Durch den Druck der Gesellschaft (Gesetze, Druck der NGOs) sind Hersteller nahezu gezwungen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Daher nimmt natürlich die Anzahl an "nachhaltigen" Produkten immer mehr zu. Produkte haben dann Attribute, die nachhaltiger sind als konventionell hergestellte. Herausforderung ist hier, diese Bemühungen auch vergleichbar zu machen. Hier arbeiten wir mit der Hochschule Niederrhein und der ITW Aachen an einem Weg der Einordnung.

Was erwarten Sie für den Modemarkt insgesamt im neuen Jahr? Wird der Anschluss an 2019 gelingen?
Sicherlich wird es ein herausforderndes Jahr. Das nehmen auch die Unternehmen so wahr. Viele gehen davon aus, dass 2023 schwieriger wird als 2022. Auch, weil sich einige Marktbewegungen schon abzeichnen. Darüber hinaus gibt es viele Unsicherheiten, die man mit einberechnen muss, die aber zum Teil kaum absehbar sind. Wir werden sicher eine leichte Rezession erleben. Das sind keine guten Vorzeichen für die Konsumlaune und damit für die Modebranche. Ich erwarte eine Erholung für das Jahr 2024 – auch, weil sich dann der Markt bereinigt hat.

TextilWirtschaft, Aziza Freutel: "Es fehlt an Klarheit, was eigentlich nachhaltig ist" (Donnerstag, 19. Januar 2023)

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