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TextilWirtschaft: "Datenbasierte Optimierung von Kernprozessen ist wichtiger als Fancy Stuff"

Tobias Humpert: "Solange wir noch ungeplante Stock-Outs in Artikeln mit gut vorhersehbarem Absatzpotenzial haben, ist doch erst mal klar, mit welchen Anwendungsfeldern sich Handel und Industrie als Erstes auseinandersetzen müssen."

Veröffentlicht am 29.05.2023

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"Datenbasierte Optimierung von Kernprozessen ist wichtiger als Fancy Stuff"

Tobias Humpert, geschäftsführender Gesellschafter bei hachmeister + partner, über den Nutzen von Chat GPT für die Modebranche, die intelligente Verbindung von Stationär- und Online-Geschäft sowie die aktuelle Umsatzentwicklung.

TextilWirtschaft: Künstliche Intelligenz (KI) ist auch in der Modebranche in aller Munde - nicht zuletzt wegen Chat GPT. Welche Chancen sehen Sie für den Modehandel?
Tobias Humpert:
 Der immense Fortschritt von GPT zeigt, wozu KI fähig sein kann, wenn diese umfassend trainiert wird und über ausreichend viele Parameter verfügt. Auch für den Modehandel sehen wir enorme Chancen von KI, wobei es weniger um ein sprachbasiertes Interface gehen wird, sondern darum, auf Basis des maschinellen Lernens mehr richtige Entscheidungen schneller zu treffen, z.B. im Merchandise Management. Die datenbasierte Optimierung von Kernprozessen des Modehandels wird für die meisten viel wichtiger sein als der Fancy Stuff, den man theoretisch auch noch machen könnte. Solange wir noch ungeplante Stock-Outs in Artikeln mit gut vorhersehbarem Absatzpotenzial haben, ist doch erst mal klar, mit welchen Anwendungsfeldern sich Handel und Industrie als Erstes auseinandersetzen müssen.

Welche sind das?
Die aus unserer Sicht bedeutendsten Use Cases liegen im Merchandise Management. Zuallererst in der Optimierung des Bestands von Artikeln, die nachversorgt werden können, wie NOS und Seasonal-NOS. Aber auch die frühzeitige Prognose von Bestsellern, die nicht auf Industrieseite verfügbar sind, stiftet einen großen Nutzen. Hieraus können die Merkmale des Bestsellers abgeleitet werden, um dann entweder im Markt verfügbare ähnliche Artikel nachzuordern, oder um in der Saison noch über Produktion und Einsteuerung entsprechender Ware zu reagieren. Letzteres ist natürlich am anspruchsvollsten, da es eine veränderte und gut abgestimmte Zusammenarbeit zwischen Industrie und Handel erfordert, aber hier sind die Chancen auch am höchsten. Darüber hinaus bestehen hohe Potenziale in der KI-basierten Preis- und Vororderoptimierung, wobei letzteres sicherlich die Königsdisziplin sein wird. Bisher stehen in unseren Projekten und Tools im Mittelstand eher die In-Season-Potenziale im Fokus, um Bestandsniveaus zu verbessern und Arbeitsaufwand zu sparen.

Wo sehen Sie weitere Möglichkeiten?
Auch im CRM gibt es interessante Anwendungsfälle, z.B. durch die intelligente Selektion der richtigen Adressaten für die geplanten Marketinganstöße oder die Personalisierung des Marketing-Contents. Natürlich lassen sich für den E-Commerce die Customer Experience verbessern, Texte automatisiert erstellen und Effizienzpotenziale im Customer Care realisieren, aber für den stationär geprägten Mittelstand sind diese Anwendungsfälle eher nice-to-have. Auch jenseits der sortiments- und kundenbezogenen Prozesse gibt es interessante Anwendungsfälle, etwa eine Vielzahl von Berichten, bei denen sich Unternehmen heute schon den Aufwand bei der Ausformulierung sparen. Ein interessantes Beispiel sind etwa die Nachhaltigkeitsberichte. Die zentralen Inhalte muss natürlich jedes Unternehmen selbst erheben und priorisieren, aber in der Ausformulierung kann textbasierte KI einen Nutzen stiften.

Worauf ist bei einer Kosten-Nutzen-Analyse zu achten?
Zuallererst sollte ich mich fragen, in welchen Prozessen bereits heute sehr viele wichtige Entscheidungen getroffen werden müssen, zu denen viele Parameter bzw. Daten berücksichtigt werden müssen. In genau diesen Prozessen werden zukünftig durch maschinelles Lernen Entscheidungen schneller, effizienter und oft auch besser getroffen werden können. Aber natürlich kann das nur funktionieren, wenn auch die erforderlichen Daten in der erforderlichen Qualität vorhanden sind. Hier besteht oft noch der Engpass. Darüber hinaus sollte vor dem Hintergrund von Chat GPT jede Tätigkeit, bei der ein hoher Aufwand in der Ausformulierung anfällt, auf dem Prüfstand stehen.

Wie ist es insgesamt um die Digitalisierung im stationären Modehandel bestellt?
Das hat natürlich viele Facetten. Im E-Commerce haben durchaus viele Händler in den Corona-Jahren Fortschritte gemacht. Jetzt, wo die hohen Wachstumsraten aber erst mal passé sind, fahren viele ihr Engagement wieder zurück. Als Multibrand-Händler mit breit verfügbaren Marken bleibt Profitabilität schwierig zu erreichen und ein echter Wettbewerbsvorteil kann nur selten noch erarbeitet werden. Die Verknüpfung zwischen E-Commerce und stationären Stores ist dabei im Laufe der Jahre besser geworden, ist aber heute eher ein Hygiene-Faktor als ein echtes Differenzierungsmerkmal.

In welchen Bereichen ist Digitalisierung besonders relevant?
Von hoher Bedeutung ist aus unserer Sicht die Digitalisierung der Kundenkommunikation, sei es über ein verbessertes CRM generell, über Smartphone Apps oder auch über eine Unterstützung der digitalen Kommunikation zwischen Verkäufern und Kunden. Hier gibt es spannende Entwicklungen, die aber noch ganz am Anfang stehen. In den Stores selbst haben sich viele digitale Customer Experience Features wie virtuelle Anproben und interaktive Screens bisher wenig bewiesen. Da gab es in den Jahren vor Corona ja durchaus eine Welle, die dann aber abgeebbt ist. Das Sammeln und Auswerten von Daten am POS gewinnt gleichzeitig an Bedeutung, nur eben nicht in dieser Offensichtlichkeit. Insgesamt haben aber viele Unternehmen festgestellt, dass noch große Aufgaben in den Daten bestehen, denn kein digitaler Anwendungsfall funktioniert mit schlechten Daten.

Wie haben sich die Online-Modeumsätze im ersten Quartal und im April entwickelt?
Im Multibrand-Modehandel ist der Online-Umsatz in der Summe aus eigenen Shops und Marktplatzumsätzen in 2023 (Januar bis April) mit minus 6% zum Vorjahr rückläufig und damit noch deutlich schwächer als die stationäre Entwicklung (plus 13%), wobei die 2022er-Vorlage natürlich in den Kanälen sehr unterschiedlich stark war. Innerhalb der Umsätze zeichnet sich dabei im Handel wie erwartet eine deutliche Tendenz weg von den Marktplatzumsätzen hin zum eigenen Shop ab. Die Entwicklung der Hersteller-E-Shops ist etwas besser. Für beide Seiten gilt aber auch, dass die Online-Marketing-Ausgaben insgesamt niedriger waren. In dem Zuge hat sich die Cost-Sales-Ratio bei den meisten eher verbessert.

Durch die Gebührenanpassungen, etwa bei Zalando, stellt sich das Plattformgeschäft als nicht mehr so lukrativ dar. Welche Folgen hat das für die Digitalisierung im Handel?
Viele Händler werden die Plattformen weiterhin zur Vermarktung von (ungeplanten) Überbeständen nutzen, aber in den meisten Genres werden Händler nicht mehr gezielt dafür einkaufen. Insgesamt wird es eine deutliche Verlagerung in Richtung der direkten Vermarktung durch die Industriemarken geben. Da die großen Marktplätze aber gleichzeitig ihre Order-Limits zurückfahren, bauen die Industriemarken nun die Kompetenzen des aktiven Marktplatzmanagements über eigene Bestände aus.

Zeitgleich sortiert Zalando viele Marken aus. Könnte das wiederum den eigenen Online-Shops der Händler und Hersteller einen Push verleihen?
Zalando hat jüngst festgestellt, dass sie deutlich stärker kuratieren wollen und in dem Zuge auch das Angebot etwas konzentrieren. Ich glaube allerdings, dass dies eher eine temporäre Korrektur ist. Schließlich will Zalando nach wie vor der "Starting Point for Fashion" sein – der Ort, an dem möglichst alle Konsumenten ihren Such- und Kaufprozess für Mode beginnen. Das funktioniert nur mit einem sehr umfassenden Angebot. Natürlich benötigen Hersteller und Händler daneben zwingend auch ein eigenes Online-Angebot mit eigener Hoheit der Kundenschnittstelle. Strategisch geht es weniger um ein Entweder-oder, sondern darum, das Angebot intelligent nach eigenen Kanälen und Marktplätzen zu differenzieren. Die Erfolgsfaktoren sind überall unterschiedlich, entsprechend muss das Angebot und das Service-Niveau auch überall unterschiedlich ausgestaltet werden.

Was sind Ihrer Meinung nach die größten Herausforderungen für den Modehandel in den kommenden Monaten in Bezug auf die Digitalisierung?
Es ist offenbar nur noch in den allerwenigsten Lagen ausreichend, seine Türen zu öffnen und auf den Konsumenten zu warten. Das bedeutet, die Kernaufgabe liegt im Aufbau eines digitalen Kundenzugangs und darin, ihn dann mit der richtigen Ansprache und den richtigen Mehrwerten zum Kommen zu bewegen. Wenn er dann aber im Haus ist, ist neben Beratung und Erlebnis eben doch die Verfügbarkeit der richtigen Ware entscheidend, nicht nur um den Bon zu machen, sondern auch, damit er beim nächsten Mal wiederkommt. Bei all diesen Aufgaben – Frequenzgenerierung, Beratung, Warenverfügbarkeit – kann die Digitalisierung entscheidend unterstützen.

TextilWirtschaft, Aziza Freutel: "Datenbasierte Optimierung von Kernprozessen ist wichtiger als Fancy Stuff" (Donnerstag, 11. Mai 2023)

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